Jens Märker

Jens Märker (ehemaliger Bausoldat) (E-Mailadresse Nr. 68)

Leseprobe aus dem geplanten Buch Schulter-Stücke:

Ein Tag am Meer
Der erste Morgen in Prora war schlimm für mich: Meine Gedanken und Gefühle hatten sich geweigert, dort sesshaft zu werden. Sie waren über Nacht schnurstracks wieder nach Hause zurückgekehrt, zu meiner Verlobten, in meine Heimat, das Erzgebirge, zu meinen Eltern und Freunden. Nur mein Körper lag, von kleinkarierter Bettwäsche umhüllt, in einem Stahlrohrbett irgendwo auf der größten Insel der DDR. Ich weiß nicht mehr, was ich geträumt habe, jedenfalls hatte ich sehr gut geschlafen und war richtig weg. So unwirklich waren die ersten Erfahrungen bei der Armee, dass sie im Gedächtnis noch keinen Ort gefunden hatten, an dem sie sich einnisten konnten, um mich auch nachts nicht zur Ruhe kommen zu lassen.
Der morgendliche grelle Pfiff mit dem darauffolgenden Weckruf: „Nachtruhe beenden!", holte mich in die Realität zurück. Ich hatte schon Träume durchlitten, nach deren Ende ich wirklich froh war, in meine normale, geordnete Welt zurückzukehren und genau zu wissen: Es war nur ein Traum. An jenem Morgen im November war es andersherum: Ich hatte gehofft, die Trillerpfeife ist das Signal zum Eintritt in einen Alptraum, der sich in Kürze als vorübergehende Täuschung entpuppen würde. Aber der Traum nahm kein Ende. Irgendwann begriff ich: das ist die Wirklichkeit, in der du lebst. So ähnlich stelle ich mir das Gefühl vor, das ein klinisch Toter empfindet, wenn er ins Leben „zurückgeholt“ wird. Menschen, die das durch haben, erzählen ja, es sei für sie unangenehm gewesen, aus der vorübergehenden Zwischenwelt, in der ihre Seele leicht und unbeschwert auf den am Boden liegenden Körper voller Blut und Verletzungen blicken konnte, erneut in ihren Körper voller Schmerzen und Verletzungen hineinversetzt zu werden und  nun mit Hilfe der Notärzte alles zurück zu bekommen, was sie nicht vermisst hatten.  
Was wir am ersten Tag über uns ergehen lassen mussten, hatten wir bisher im Leben nicht vermisst. Einiges davon ist mir noch lebhaft vor Augen.
Die ersten beiden Wochen galten der Grundausbildung. In dieser mussten wir lernen, uns zu fügen, Befehlen Folge zu leisten, ohne nach deren Sinn zu fragen. Befehlsverweigerung war die Todsünde schlechthin, die ein Bausoldat begehen konnte. Wir wurden also in unsere Pflichten eingewiesen und eintrainiert, mochten uns diese noch so dumm und unvernünftig erscheinen. Über unsere Rechte wurden wir wohl nicht aufgeklärt, ich kann mich jedenfalls nicht an eine besondere Maßnahme dieser Art erinnern. Es muss eine solche aber gegeben haben, wenn auch in sehr beschränktem Umfang. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass zu unseren Rechten das Recht auf Beschwerde gehörte. Man durfte schriftliche Eingaben formulieren, wovon Bausoldaten auch reichlich Gebrauch machten. Aber dass einem von uns in irgendeiner Weise Recht zugesprochen wurde, muss selten der Fall gewesen sein.  
Ein Beispiel aus den späteren Monaten in Merseburg zeigt, auf wessen Seite das Recht zu Hause war. Folgendes hatte sich zugetragen. Ein Kamerad aus meiner Kompanie fühlte sich durch den Kompaniechef in irgendeiner Sache ungerecht behandelt und wusste sich keinen Rat mehr. Er wandte sich an einen Generalleutnant, also ein „hohes Tier“, wie wir sagten, und bat ihn im Zusammenhang mit einem Besuch in unserem Regiment, den er sowieso vorhatte, um ein Gespräch, um ihm sein Problem vorzulegen. Das Gespräch verlief ernüchternd. Es stand Aussage gegen Aussage zwischen meinem Kameraden und dem Kompaniechef. Ergebnis: Der Kompaniechef erhielt Recht. Begründung des Generalleutnants: Im Zweifelsfalle ist das Recht grundsätzlich auf Seiten des höheren Dienstgrades. Ein Hauptmann ist nun mal mehr als ein Bausoldat. Das war die innere Logik des Systems. Mit Recht hatte das recht wenig zu tun.
Zurück zur Grundausbildung. Zu den befohlenen Übungen in den ersten Stunden gehörte auch das An- und Ausziehen nach Zeit. Und das ging so: Die Bausoldaten hielten sich zu sechst in ihrer Unterkunft auf, in ungezwungene Gespräche vertieft. Irgendwann erschallte die Trillerpfeife des Zugführers. Die Spielregel sah nun vor, dass pro Zimmer ein Mann vor die Tür musste, um entsprechende Befehle für alle zu empfangen. „Mann vor die Tür“ so lautete der Befehl, der sich von innen, aus dem Zimmer, so anhörte: „Ann oa ie Üa!“ Die Mitlaute wurden dabei von der Türfüllung verschluckt. Wozu brauchten wir sie auch? Vokale mussten uns genügen. Wer die Freiheit einschränkt, nimmt sich gern auch die Freiheit, beschränkt zu reden, nicht nur in der Weglassung von Mitlauten. Die Ähnlichkeit der Befehlssprache mit uns bekannten Worten genügte, um uns in Unruhe zu versetzen. Der Stab der Vorgesetzten - das reinste Vokalensemble, nur klang ihre Musik selten angenehm in unseren Ohren. Sie beherrschten obendrein nicht die Kunst der leisen Töne, von begabten Ausnahmen abgesehen. Aber was soll´s? Wozu muss man verstehen, was einem befohlen wird? Der Hund versteht auch nicht, aber er lernt, nach Pawlow, die Reflexe mit Geräuschen in Verbindung zu bringen. Der Hund übt so, zu parieren auf Kommando. Der Hund muss nicht verstehen, was ihm Herrchen befiehlt. Hauptsache, er tut, was er soll. Darin sollten auch wir geschult werden. Uns war hundeelend zumute, wenn konsonantenfreie Sprache ertönte. Für diesen Entzug von Konsonanten revanchierten wir uns später auf eigene Weise und nahmen den Vorgesetzten kurzerhand einen Vokal weg - den Buchstaben „E“, der für Soldaten im Grundwehrdienst eine besondere Bedeutung hatte. „E“ war die Kurzform der ohnehin schon kurzen Abkürzung „EK“ – Entlassungskandidat. Dieses Kürzels durfte man sich im dritten und letzten Diensthalbjahr erfreuen, wenn die baldige Heimkehr schon in Sichtweite war. Dass die meisten von uns nach Prora kamen, als die Vorgesetzten schon eine Weile dort waren, und dass wir gingen, während sie weiterhin dort bleiben mussten, war für manchen von ihnen ein Reizgedanke. Auch wenn sie es nicht offen zeigten, aber es gab unter den „Säcken“, wie wir die Vorgesetzten nannten, durchaus Männer, die sich, ebenso wie wir, nichts sehnlicher wünschten, als das diese für sie um ein vielfaches längere Zeit so schnell wie möglich an ihnen vorüberziehen möge. Der Buchstabe „E“ allein genügte, ihnen dieses zeitliche Ausmaß ihrer Lage in Erinnerung zu rufen, ihnen, die noch lange keine „E“s waren. Sie hatten darum unserer Meinung nach kein Recht, diesen besonderen Buchstaben in ihrem Namen zu tragen. Ihr Familienname wurde also kurzerhand entsprechend reduziert. Doch das fiel, rein menschlich, kaum ins Gewicht. Wer nur laut ist, und nicht er selbst, dem schadet auch ein fehlender Selbstlaut nicht wirklich. Trotz allem: Pech für den, der einzelne oder mehrere „E“ im Familiennamen sein eigen nennen durfte. Intern hieß der eine nach unserem logochirurgischen Eingriff „Brt“, ein anderer „Bisch“.
Wenn also einer von denen, ob vokalreduziert oder nicht, den Befehl schrie: „Ann oa ie Üa“, dann hieß es zum Beispiel: „In drei Minuten in Felddienstuniform mit Koppel und Käppi – Wegtreten“. Der auserkorene Befehlsempfänger hatte nun befehlsgemäß diesen Befehl an die Dringebliebenen zu übermitteln und dessen Ausführung durchzusetzen. Der Reiz lag bei jenem Beispiel im Wechsel, im Wäschewechsel. Es hatte etwas von Anprobe im Konfektionsgeschäft, nur dass die Kabine mit fünf anderen geteilt werden musste und der körpergroße Spiegel fehlte, in dem wir uns hätten bewundern können. Hieß der letzte Befehl nun zum Beispiel: „Sportzeug kurz“, so war damit zu rechnen, dass wir drei Minuten später garantiert im Schutzanzug mit Gasmaske und Stahlhelm vor die Tür zu treten hatten. Diese „Modenschau“ brachte dem Spielleiter, den man unschwer an seinen, einen höheren Dienstrang anzeigenden, Schulterstücken erkennen konnte und auch daran, dass er sich nicht verkleiden musste, sicher ein paar vergnügliche Stunden, auch wenn er dabei oft verbissen dreinschauen musste, um den Ernst der Lage permanent zu signalisieren. Wir „Models“ dagegen waren im Dauerstreß. In gewisser Weise fühle ich mich nachträglich Heidi Klum oder Kate Moss verbunden. Nur: Sie müssen mit Geld zu häufigem Kleiderwechsel genötigt werden, für unsereinen war die befehlsgewaltige Stimme des Vorgesetzten ausreichend ... wenigstens blieben uns Stöckelschuhe erspart. Das Meer war zum Greifen nah, das wussten wir vom Vorabend aus eigener Anschauung. Doch ich sah es an diesem ersten vollen Tag nicht ein einziges Mal. Erst einige Zeit später ergab sich diese Möglichkeit. Soweit ich weiß, war es verboten, den Strandabschnitt im militärischen Sperrgebiet zu betreten, der übrigens einer der schönsten ist, die ich bisher gesehen habe. Warum? Die Ostseeküste galt als Grenzgebiet. In gewissem Abstand waren Grenzkontrolltürme aufgepflanzt worden, die wie Ausrufezeichen dem Bürger Respekt vor der Staatsmacht einflössen sollten. Grenzposten liefen an manchen Küstenabschnitten Streife. Das paradoxe an dieser „Staatsgrenze der DDR“, wie sie offiziell hieß, war, dass sie de facto nicht dem Schutz vor Feinden diente, sondern ein Werkzeug zur Fluchtverhinderung darstellte. Wer sich also in ihre Nähe begab, war von vornherein ein potentieller Republikflüchtling, ein Ausreißer. Ein älterer Herr, der in den sechziger Jahren in Prora stationiert war, erzählte mir, dass während eines besonders strengen Winters einige Soldaten mit dem Motorrad das Land über die zugefrorene Ostsee in Richtung Dänemark oder Schweden verlassen haben sollen, ob sie je dort ankamen, weiß kein Mensch. Ich liebte das Meer. Manchmal war ich heimlich am Strand. Das schönste war für mich dabei nicht nur die Seeluft, sondern der Blick in die Weite – das unendliche, tiefblaue Meer, der hohe, leuchtblaue Himmel. Ob tatsächlich nur die Farbe grün den Augen am besten tut?
 

zurueck88

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