Mein Weg zu den Bausoldaten

Mein Weg zu den Bausoldaten und meine Einstellung zu den Vorgesetzten

Frage eines ehemaligen Vorgesetzten:
... Eigentlich wären mir umfangreiche Wortmeldungen der ehemaligen Bausoldaten viel lieber. Persönlich wäre nun einmal interessanter, wie man uns als Vorgesetzte sah, mit uns die Zeiten des Wehrdienstes überstand und wie man so manches mal die Grenzen des Möglichen
auslotete ... (6.9.2007)
Lothar Kühne (E-Mailadresse Nr. 17)


Sehr geehrter Herr Kühne,
es ist mir nicht leicht gefallen, Ihre Fragen zu beantworten. Vieles kam dabei wieder hoch und ich musste zwischendurch Pausen einlegen. Um die eigentlich kurzen Antworten auf Ihre Fragen verständlich machen zu können, musste ich etwas weiter ausholen und auch meinen Weg zu den Bausoldaten beschreiben. Meine Erfahrungen, die ich auf diesem Weg machen musste, haben ganz wesentlich meine Einstellung zu den Vorgesetzten in Prora beeinflusst.
Es ist durchaus möglich, dass andere Bausoldaten ihre Zeit in Prora völlig anders und nicht so dramatisch erlebten, wie ich. Es ist meine ganz persönliche Erinnerung an diese Zeit.
Mit freundlichen Grüßen
                         Tobias Bemmann
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Mein Weg zu den Bausoldaten und meine Einstellung zu den Vorgesetzten

Obwohl ich christlich erzogen wurde, verlief meine Musterung ganz normal. Die Existenz der
Bausoldaten war mir zwar bekannt, ich hatte mir aber bis dahin keine Gedanken wegen meinem Wehrdienst gemacht. Es schien alles noch so weit weg zu sein. Die NVA hatte mich deshalb zunächst für ihre „Artillerie“ vorgesehen.
Im Zusammenhang mit meiner damaligen Arbeit wurde ich dann aber immer mehr mit den Lügen und dem Betrug des DDR-Systems konfrontiert. Ich stellte z.B. selbst hochwertige Artikel her, die im Westen für einen Spottpreis verschleudert wurden. Reden sollte man darüber nicht. Selbst die Ausschussware, die ich gerne abgekauft hätte, wurde vernichtet, damit die Bevölkerung nicht erfuhr, was bei uns alles hergestellt wurde. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, für was die erwirtschafteten Devisen gebraucht wurden.
Ich bemerkte nun auch die Verlogenheit in der Zeitung und im Fernsehen. Auch dass die Mauer nicht zu unserem Schutz gebaut wurde, sondern um uns einzusperren.
Meine Einstellung änderte sich sehr stark. Ich beteiligte mich nun auch an der Aufnäheraktion „Schwerter zu Pflugscharen“, wobei ich unbewusst eine Schwelle überschritten hatte. Der Aufnäher wurde mir mitten in der belebten Innenstadt von Magdeburg abgenommen. Scheinbar sollten es die Leute sehen, dass man sich mit einem solchen Aufnäher zum Staatsfeind macht. Aus meinen Stasiakten kann ich entnehmen, dass ich hierbei das erste Mal ins Visier dieser Leute geriet.
Dann kam meine erste Einberufungsüberprüfung. Meine Entscheidung, den Dienst mit der Waffe zu verweigern, war nun längst gefallen.
Die Leute im Wehrkreiskommando reagierten natürlich völlig entsetzt und verärgert. Schließlich hatten sie mich bereits fest in der NVA verplant. Stundenlanges Warten und mehrere Verhöre sollten mich dazu bewegen, meine Entscheidung zurück zu nehmen. Vermutlich mussten sie extra wegen mir einen höheren Stasioffizier anfordern. Dieser machte mir dann unmissverständlich
klar, auf was ich mich nun einlasse. Dass ich es bei den Bausoldaten sehr schwer haben werde, dass diese Entscheidung mein ganzes Leben beeinflussen wird, dass ich erst sehr spät zum Wehrdienst eingezogen werde usw.
Ich wusste also nun Bescheid.
Ich begann mit einer weiteren Berufsausbildung, mit der Gewissheit, dass ich erst mit 26 Jahren eingezogen werde. Doch diese Rechnung hatte ich ohne die Stasi gemacht. Natürlich wussten sie von meiner Ausbildung. Und sie wussten auch, dass sie mir mit einer vorgezogenen Einberufung einen Strich durch meine Lebensplanung machen konnten. Ich war gerade 24, als für mich völlig unerwartet die nächste Aufforderung zur Einberufungsüberprüfung ins Haus flatterte.
Auf meine verzweifelte Bitte, mich noch ein Jahr zurückzustellen, reagierten sie im Wehrkreiskommando mit einem eindeutigen „Nein“.
Die Entscheidung stehe fest, da lässt sich nichts mehr ändern. Und sie erinnerten mich daran, dass ich ja gewusst habe, auf was ich mich einlasse. Das hämische Feixen auf ihren Gesichtern hat sich tief in mein Gehirn eingebrannt und meine spätere Einstellung zu allen Armeevorgesetzten mit beeinflusst.
Nun war ich gezwungen, innerhalb kurzer Zeit mein gesamtes Leben zu überdenken. Ich stand kurz davor, die NVA total zu verweigern und einen Ausreiseantrag zu stellen. „Wenn ich schon neu anfangen muss, dann gehe ich eben den geraden Weg durch den Knast in den Westen.“ So dachte ich.
Ein guter Freund riet mir damals, zunächst eine Eingabe zu schreiben. Doch an wen? An das Wehrkreiskommando? Ich entschied mich für Erich Honecker persönlich, ohne ernsthaft daran zu glauben, dass ausgerechnet der einem “Staatsfeind” wie mir helfen würde. Die Eingabe war ein Strohhalm für mich. Mehr nicht. Ich schrieb sie, um meinen Freund nicht zu enttäuschen und achtete dabei auch nicht weiter auf die Form. Ich schrieb einfach nur meine Verzweiflung von der Seele.
Die genaue Adresse von Honecker war mir auch nicht bekannt. Wenige Tage nach dem Versenden der Eingabe erfuhr ich aber, dass sie doch beim vorgesehenen Empfänger angekommen war.
Mein Chef kam zu mir an den Arbeitsplatz und sagte, ich soll alles stehen und liegen lassen und sofort ins Wehrkreiskommando kommen. Dort brüllte man mich hektisch an, warum ich wegen so etwas gleich einen Brief nach Berlin geschrieben hätte. Ich hätte die Eingabe zunächst an das Wehrkreiskommando schicken sollen. Das würde noch schlimme Konsequenzen für mich haben. Völlig verunsichert und voller Angst wurde ich wieder nach Hause geschickt, ohne zu wissen, wie es nun weiter geht.
Einige Tage später bekam ich dann einen Brief aus Berlin vom ZK der SED. Irgendein Sachbearbeiter (nicht Honecker selbst) teilte mir nun in einem einzigen Satz mit, dass ich erst nach dem Ende der Ausbildung zur NVA eingezogen werde. Der Brief verblüffte mich völlig. Innerlich hatte ich mich längst von der DDR verabschiedet und träumte von einem Neuanfang im Westen. Ich wusste nun nicht, ob ich mich freuen sollte, oder eher ärgern. 
Was ist in diesem Zusammenhang hinter den Kulissen gelaufen? Warum diese hektische und unnötige Reaktion im Wehrkreiskommando? Was bewegte die Leute im ZK dazu, meinen Wunsch zu erfüllen und sich damit über die Entscheidung des Wehrkreiskommandos hinweg zu setzen?
Nach dem Ende der Ausbildung ging dann alles sehr schnell. Einberufungsüberprüfung, Einberufungsbefehl ... Natürlich stand das berüchtigte „Prora“ auf der Karte, etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.
All das, was mir damals so zynisch im Wehrkreiskommando  angekündigt wurde, schien sich nun zu bestätigen. Ich fühlte mich eingesperrt, ausgestoßen, in Gefangenschaft.
Ein Gefühl der Zugehörigkeit zur NVA empfand ich nie. Sie war mein Feind. Die Vorgesetzten sah ich als ihre Vollstrecker.
Die wenigen Vorgesetzten,  die wenigstens ab und zu menschliche Züge zeigten, schienen selbst große Angst vor dem unsichtbaren und grausamen Monster zu haben. Alle wussten scheinbar, dass man immer und überall überwacht werden konnte. Niemand wusste genau, wer ein Spitzel war und wie umfangreich die Überwachung funktionierte.
Grenzen gegenüber den Vorgesetzten wollte ich persönlich nicht ausloten. Für mich gab es nur ein Ziel: „Durchhalten und überleben“.
Die im Nachhinein albern wirkenden Aktionen, die man eigentlich nur verstehen kann, wenn man selbst dabei war, waren für mich nur ein Ventil, eine Möglichkeit um Frust abzulassen. Die einzigen Höhepunkte im grauen Alltag von Prora. Ich kann mich z.B. erinnern an: E-Kugel rollen, Umspuren, Absprung, E-Horn blasen, Minuten abstreichen auf er E-Uhr, Maßband abschneiden, Tage abklopfen, manchmal schrie ich einfach nur das rauschende Meer an: „Ich will hier raus!“

Das „E“ stand jeweils für das wichtigste Wort im Leben eines Bausoldaten: „Entlassung“

E-Kugel rollen
Ab und zu wurde eine der schweren Eisenkugeln, die in der Kaserne versteckt waren, über die langen Flure gerollt. Auf den grob gekachelten Betonfußböden entstand dadurch ein lautes donnerndes Geräusch, das vermutlich über alle Etagen des Gebäudes zu hören war.
Meistens verabredeten sich zwei Bausoldaten. Einer schickte die Kugel am einen Ende des Flures auf die Reise. Der Zweite fing sie am anderen Ende wieder ein und versteckte sie. Es wurde über verschiedene Zwischenfälle beim E-Kugelrollen erzählt. So soll einmal eine der  Kugeln einen Heizkörper im Flur getroffen haben, wodurch es eine Überschwemmung gab.
Eine weitere Geschichte, die man immer wieder hörte: Ein Bausoldat hat eine der Eisenkugeln mit einem Bügeleisen „vorgewärmt“. Ein übereifriger Vorgesetzter soll sich dann auf die Kugel gestürzt und dabei die Hände verbrannt haben.

Absprung
Der sogenannte Absprung wurde gefeiert, wenn die Tageszahl einen Hunderter nach unten ging. (z.B. von 300 auf 299 Tage) Abends wenn schon Nachtruhe befohlen war, verabredete man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die meisten Bausoldaten (nicht alle) nahmen dann ihren Stahlhelm und ließen diesen auf ein vereinbartes Zeichen hin auf den Betonfußboden knallen. Der gleichzeitige Aufprall der vielen Stahlhelme verursachte ein Geräusch, das mit einem leichten Erdbeben vergleichbar war.
Sofort nach dem Absprung musste man den Helm wieder ordnungsgemäß wegräumen und unter der Bettdecke verschwinden. Manchmal versuchte danach ein Vorgesetzter einen der Übeltäter auf frischer Tat zu ertappen.

Umspuren
Das Umspuren gab es im Leben eines Bausoldaten nur zweimal. Einmal spurte man von 100 auf 99 Tage um und dann noch einmal kurz vor der Entlassung von 10 auf 9.
In diesem Zusammenhang wurden kurze Reststücke von Eisenbahnschienen mit in die Kaserne genommen, die man auf der Baustelle in Mukran ab und zu fand. Diese ließ man auf den Fußboden knallen oder warf sie zum Fenster hinaus. Der sogenannte Außendienst hatte dann am nächsten Tag beim Aufräumen noch einmal seinen Spaß mit den Schienen.

E-Horn blasen
Das Duschen in Prora war offiziell nur in einem riesigen Duschsaal möglich. Der gesamte Ablauf des Massenduschens verlief unter der Kontrolle und Beobachtung von Vorgesetzten. Sogar das Wasser wurde zentral hinter einer Art Schaufenster auf- und zugedreht.
Deshalb versuchte man sich so weit wie möglich vor diesem abscheulichen Vorgang
abzuducken. (verstecken) Wenn man aber dennoch das Bedürfnis hatte, sich zu duschen, musste man sich etwas einfallen lassen. Man besorgte sich ein Stück Wasserschlauch, steckte diesen an einen Wasserhahn im Waschraum und schon war eine Dusche installiert.
Diese ca. einen Meter langen Schlauchstücken hatten aber noch eine andere Funktion. Sie wurden zwischendurch immer wieder als „E-Horn“ benutzt. Dazu blies man ähnlich wie in eine Trompete hinein. Es entstanden dabei relativ laute röhrende, hupende Geräusche.
Das E-Horn blies man einfach zwischendurch einmal, wenn einem danach war. Oft stimmten dann spontan noch weitere E-Hornbläser mit ein.
Die Schlauchstücken wurden bei Kontrollen regelmäßig teils in größeren Stückzahlen
eingezogen. Doch der Nachschub von der Baustelle funktionierte reibungslos.

Minuten abstreichen auf der E-Uhr
Eine E-Uhr war eine ganz normale Uhr, auf dessen Zifferblatt alle 9 Tage eine Minute ausgemalt werden konnte. Dadurch entstand eine Art Zeitdiagramm. Ein grober Überblick über die noch verbleibende Zeit in Prora. Man fragte sich dann gegenseitig, wie spät es ist. Als Antwort bekam man die noch verbleibende Minutenzahl mitgeteilt. Diese Zeitabfrage konnte man durchaus auch einmal in Gegenwart eines Vorgesetzten stellen, der vermutlich nicht wusste, was damit gemeint war.
 

zurueck37

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